Depressionen sind nicht nur für Betroffene mit grossen Einschränkungen und Leiden verbunden, auch Angehörige sind Mitleidende. Sie können aber auch wichtig zur Unterstützung von an Depression erkrankten Familienmitgliedern sein. Ein Interview mit Dr. med. Joe Hättenschwiler, Gründungspräsident der Schweizerischen Gesellschaft für Angst und Depression (SGAD) und Senior Consultant am Zentrum für Angst- und Depressionsbehandlung Zürich (ZADZ).

Dr. med. Joe Hättenschwiler
© Alice Hättenschwiler
Gründungspräsident der Schweizerischen Gesellschaft für Angst und Depression (SGAD) und Senior Consultant am Zentrum für Angst- und Depressionsbehandlung Zürich (ZADZ)
Ab wann spricht man medizinisch von einer Depression, wann von einer Verstimmung?
Eine Depression liegt vor, wenn mindestens zwei der drei Hauptsymptome – anhaltend gedrückte Stimmung, Verlust von Interesse oder Freude sowie deutlicher Antriebsmangel – fast täglich über mindestens zwei Wochen bestehen. Zusätzlich treten weitere Symptome hinzu, etwa Schlafstörungen, anhaltendes Grübeln, Schuldgefühle, Konzentrationsprobleme, Entscheidungsprobleme oder Veränderungen von Appetit und Gewicht. Der zentrale Unterschied zu einer Verstimmung liegt nicht nur in der Dauer, sondern vor allem im Ausmass der Beeinträchtigung: Auch einfache Alltagsaufgaben wie Einkaufen, Aufstehen oder soziale Kontakte können zur Belastung oder gar unmöglich werden.
Wann sollte man Hilfe suchen – und wo?
Spätestens bei Beschwerden über zwei Wochen, deutlicher Alltagsbeeinträchtigung und/oder Suizidgedanken sollte professionelle Hilfe in Anspruch genommen werden – bei Suizidgefahr sofort. Der erste Schritt führt dann meist in die Hausarztpraxis. Dort wird abgeklärt, wie lange die Beschwerden bestehen, wie stark sie sind und ob körperliche Ursachen eine Rolle spielen. Besteht der Verdacht auf eine Depression, folgt die fachärztliche Abklärung.
Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es, und wie können Angehörige unterstützen?
Depressionen sind gut behandelbar. Leichte Formen sprechen häufig auf Psychotherapie an. Bei mittleren und schweren Verläufen wird meist eine Kombination aus Psychotherapie und Medikamenten eingesetzt. Angehörige können unterstützen, indem sie präsent bleiben, zuhören, zu Terminen begleiten und im Alltag punktuell entlasten, etwa bei organisatorischen Aufgaben. Hilfreich ist auch eine verlässliche Tagesstruktur mit festen Zeiten für Schlaf, Mahlzeiten oder kurze Bewegungseinheiten – allerdings ohne Druck. Ebenso wichtig: Angehörige sollten ihre eigenen Grenzen wahrnehmen und sich selbst Unterstützung holen, um nicht zu erschöpfen.
Wie gelingt eine hilfreiche Kommunikation im Alltag, und was sollte man vermeiden?
Hilfreich sind Sätze wie «Ich bin für dich da» oder «Du musst das nicht alleine schaffen, wir machen es gemeinsam». Oft reicht es, einfach zuzuhören, ohne sofort Lösungen präsentieren zu wollen. Vermieden werden sollten Bagatellisierungen und Appelle wie «Reiss dich zusammen», «Andere haben es schlimmer» oder «Das wird schon wieder». Solche Reaktionen verstärken Schuldgefühle, Scham und sozialen Rückzug. Wie erkennen Angehörige eine Krise, und was ist dann wichtig? Warnzeichen für eine Krise sind zunehmende Äusserungen von Hoffnungslosigkeit, ausgeprägte innere Unruhe, Schlaflosigkeit, sozialer Rückzug oder Suizidgedanken. Suizidäusserungen müssen immer ernst genommen werden. Direktes Nachfragen ist wichtig und nicht gefährlich – im Gegenteil: Es entlastet und ermöglicht eine bessere Einschätzung der Situation. Bei konkreten Suizidplänen darf die betroffene Person nicht allein gelassen werden. In diesem Fall muss sofort eine psychiatrische Notfallstelle oder der Notruf kontaktiert werden.